Menu

Corona und die Psyche: was die Krise mit uns macht

Es ist und bleibt ein Wechselbad der Gefühle. Seit bald zwei Monaten bestimmen Kontaktbeschränkungen, Homeschooling und teilweise auch Geldsorgen unser Leben. Wir schwanken zwischen Pragmatismus, Entschleunigung und Einsamkeit. Mir selbst macht im Moment am meisten zu schaffen, dass nicht klar ist, wann wieder Normalität einkehren wird. Alltag, ohne Begrenzungen, ohne Gefahr für Alte und Kranke. Nun bin ich momentan aber halbwegs stabil, was meine Psyche angeht. Wie mag es Menschen gehen, die ganz akut von Depression und anderen psychischen Krankheiten betroffen sind- immerhin rund 30 Prozent der Menschen in Deutschland! Und wie können wir alle mit der aktuellen  Situation fertig werden? Erste Tipps für mehr Ruhe und Gelassenheit hatte ich Euch bereits gegeben, zusammen mit zwei Coaches. Jetzt gehen wir noch mehr ins Detail: Dr. Astrid Lehner ist Psychologin am medbo Bezirkskrankenhaus in Regensburg. Von ihr wollte ich wissen: “Corona und die Psyche: Was passiert da grade mit uns?”

Corona und die Psyche

Dr. Astrid Lehner: “Wir sind mit einer Situation konfrontiert, die wir als bedrohlich erleben, weil wir bislang wenig über das Virus und den passenden Umgang damit wissen. Ebenso haben die wenigsten von uns Erfahrungen damit, wie wir am besten mit den Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens umgehen können. Wir haben also eine unklare Bedrohung einerseits und noch keine passenden Bewältigungsstrategien andererseits. Das führt dazu, dass wir uns von der Situation überfordert fühlen und gestresst reagieren.

Krise heißt Stress

Dennoch gibt es natürlich große Unterschiede darin, wie genau sich das bei einzelnen Menschen äußert. Das hängt unter anderem davon ab, wie sehr das eigene Leben von der aktuellen Situation beeinflusst wird.”

“Manche von uns können ihren Alltag bis auf ein paar kleinere Anpassungen relativ gut weiterleben. Andere hingegen werden stark von den Einschränkungen beeinträchtigt und haben vielleicht mit großen finanziellen oder gesundheitlichen Sorgen zu kämpfen. Das beeinflusst natürlich, wie leicht oder schwer es uns fällt, uns an die neue Situation anzupassen.”

Faktor Resilienz

Auch die eigene innere ‘Widerstandsfähigkeit’ (Resilienz) und unsere Ressourcen haben Einfluss darauf, wie wir auf die aktuelle Situation reagieren. Jemand, der viele soziale Kontakte hat und diese über z.B. Videotelefonie weiter pflegen kann, sich austauschen kann und soziale Unterstützung erfährt, findet wahrscheinlich leichter einen gesunden Umgang mit der Situation als jemand, der sich ganz allein gelassen fühlt.”

Was macht die Situation mit psychisch Kranken?

“Im Grunde genommen erleben Menschen mit psychischen Erkrankungen die Corona-Krise genauso wie Menschen ohne psychische Erkrankung. Auch hier kommt es sehr darauf an, wie sehr der individuelle Alltag von der Krise beeinflusst wird und ob jemand bereits auf Bewältigungsstrategien zurückgreifen kann. Viele Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen sind es ja gewohnt, mit Krisen konfrontiert zu sein und haben im Laufe ihres Lebens bereits hilfreiche Strategien gelernt, um mit außergewöhnlichen Situationen umzugehen.”

Sozialer Rückzug kann ent- aber auch belastend sein

“Manche genießen es, dass die Hektik des Alltags aktuell etwas pausiert und nutzen die gewonnene Zeit, um endlich einmal zur Ruhe zu kommen oder die Wohnung auf Vordermann zu bringen. Andere trifft die Situation hingegen sehr stark, weil viele Therapieangebote ausfallen müssen, die normalerweise eine wichtige Stütze darstellen. Menschen mit bestimmten Angsterkrankungen reagieren in der aktuellen, schwer vorhersehbaren Situation oft sehr verunsichert und die Kontaktbeschränkung öffnet Tür und Tor für Einsamkeitsgefühle. Je länger die Einschränkungen im sozialen Leben andauern, umso stärker wird hier natürlich die Belastung.”

Gibt es für Krisen eigentlich auch ein “Ablaufmodell”?

“Es gibt verschiedene Phasenmodelle für Krisen, die sich insgesamt recht ähnlich sind. Ein bekanntes Modell stammt beispielsweise von Johan Cullberg, der Krisen in vier Phasen einteilt. Corona und die Psyche fügen sich da perfekt ein:

  • Die erste Phase ist der „Schock“, das heißt, dass wir mit innerem Chaos, Lähmung und einem Nicht-wahrhaben-Wollen der Realität reagieren.
  • Phase 2: Die emotionale Reaktion, also überschwemmende Gefühle von beispielsweise Angst oder Hilflosigkeit.
  • Phase 3: Die Bearbeitung der Krise. Das beinhaltet, mögliche Verluste zu akzeptieren (z.B. aktuelle Einschränkungen anzunehmen) und nach Lösungswegen zu suchen.
  • Die letzte Phase ist schließlich die Neuorientierung, d.h. sich ein Leben zu erschaffen, das an die neuen Umstände angepasst wurde, und vielleicht sogar einen Sinn in der Krise zu finden.

Wichtig: Solche Phasen müssen nicht unbedingt chronologisch verlaufen- und manche Phasen können durchaus immer wiederkehren.”

Welche Tipps und Strategien haben Sie für uns?

“Gerade wenn der Alltag stark durch die Einschränkungen beeinträchtigt wird, würde ich dazu raten, sich eine gewisse Tagesstruktur zu erhalten. Also auch, wenn beispielsweise die Arbeit oder Schule aktuell ausfällt oder im Home Office stattfindet: Stehen Sie morgens auf, duschen Sie, schminken Sie sich, so wie normalerweise auch. Auch feste Essens- und Pausenzeiten können helfen, ebenso wie regelmäßige Bewegung an der frischen Luft. Darüber hinaus: Pflegen Sie Ihre sozialen Kontakte über Telefon oder Video, unterstützen Sie sich gegenseitig und sprechen Sie ruhig auch mal über andere Themen als über Corona. Zusätzlich würde ich empfehlen, den Nachrichtenkonsum zu dosieren und auf seriöse Quellen zu beschränken, da Falschinformationen oft unnötig Ängste schüren.”

Und der wichtigste Tipp:

“Zeigen Sie Verständnis für sich selbst. Manche Tage geraten im Moment durcheinander, in vielen Momenten reagieren wir gestresst, verärgert, besorgt… all das ist normal. Gestehen Sie sich das zu.

Und lenken Sie Ihre Wahrnehmung dann wieder auf die Chance, die diese Krise vielleicht mit sich bringt, beispielsweise sich weiterzuentwickeln und Neues über sich zu lernen. Seien Sie neugierig auf sich selbst und probieren Sie aus, welche Tipps für Sie hilfreich sind und welche nicht. Sollten Sie jedoch den Eindruck gewinnen, dass es Ihnen schwer fällt, die aktuelle Situation alleine zu meistern, dann zögern Sie bitte nicht, sich professionelle Unterstützung zu suchen.”

Danke Dr. Astrid Lehner- und ganz wichtig: Wenn es Euch nicht gut geht, dann sucht unbedingt einen Arzt auf. Und auch hier könnt Ihr Hilfe und Beratung finden:

  • Telefonseelsorge: 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222
  • “Nummer gegen Kummer” für Kinder & Jugendliche: 0800 – 116 111
  • Hilfetelefon “Gewalt gegen Frauen”: 08000 – 116 016
  • Elterntelefon: 0800 – 111 0 550
  • Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe: 0800 – 33 44 533
  • Opfer-Telefon des Weißen Rings: 116 006

Sämtliche Angebote stehen Euch kostenfrei zur Verfügung.