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Willkommen in der Muttertät!

Richtig gelesen, Ihr Lieben, heute geht es um die Muttertät. Und ich verstehe, wenn Ihr erstmal erschreckt und denkt: “Mensch, bin ich alt! Was ist denn das nu wieder, Muttertät?!” I feel you. Und trotzdem denke ich, dass dieser Begriff und die dazugehörige Bewegung enorm wichtig sind. Muttertät ist die Beschreibung für eine Lebensphase, die uns Frauen hormonell, körperlich und psychisch massiv verändert. Sie beginnt mit der Schwangerschaft und dauert dann ungefähr zwei Jahre. Sie ist ein Hormonchaos vom Feinsten, genau wie die Pubertät. Woher der Begriff kommt und warum wir ihn alle in unser Vokabular aufnehmen sollten, das klären wir zusammen mit Natalia und Sarah.

Die Muttertät

Schwesternherzen Doulas

Natalia (36) und Sarah (30) sind Schwestern und als Schwesternherzen Doulas begleiten sie Frauen und Paare während der Schwangerschaft, Geburt und dem Wochenbett. “Wir hören oft die ambivalenten Gefühle, die Frauen empfinden, sobald sie Mütter werden. Wir hören es nur ganz leise, weil sie sich dafür oft schämen und denken, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Es ist mehr als Babyblues, aber (noch) keine Depression. Also haben wir nachgeforscht und sind auf den englischen Begriff Matrescence gestoßen, den Prozess des Mutterwerdens.” Die beiden Münchenerinnen setzen sich intensiv mit der Forschung auseinander und stoßen auf die Anthropologin Dana Raphael. Sie prägte den Begriff Matrescence schon im Jahr 1973, aber erst 2008 wurde die Welt durch Dr. Aurélie Athan darauf aufmerksam. Dr. Alexandra Sacks erzeugte weitere Aufmerksamkeit durch ihren NY Times Artikel und einen TED Talk.

Was ist die Muttertät?

Die Muttertät ist also das deutsche Pendant zur Matrescence und beschreibt einen Prozess, der mehrere Jahre andauert. Genau wie in der Pubertät entsteht eine tiefgreifende Verwandlung, die es in sich hat. Von einer 12-jährigen wissen wir, dass sie nicht in 8 Wochen mit der großen Herausforderung Pubertät fertig ist. Bei einer Mutter verhält es sich ähnlich.

Drei große Merkmale der Muttertät sind:

  1. Veränderungen in diversen Lebensbereichen
  2. Ambivalente Gefühle
  3. Schuld und Scham – bin ich als Mutter „gut genug“?

1. Muttertät ist Veränderung

Die Schwangerschaft sowie die Zeit danach sind geprägt durch viele Veränderungen, an deren Ende eine neue Identität steht. Natürlich begegnen wir im Laufe unseres Lebens immer wieder Wendepunkten, auch ohne Kinder zu bekommen. Ein Umzug, ein Arbeitsplatzwechsel, Schicksalsschläge etc., das alles sind Momente starker Veränderungen. Bei der Mutterschaft liegt der Unterschied aber darin, dass das Ganze durch eine starke Hormonflut ausgelöst wird und oft psychische, physische, soziale und spirituelle Veränderungen der Persönlichkeit mit sich bringt. Es ist also eine multidimensionale Transition. Bereits in der Schwangerschaft verändern Frauen ihren Fokus und ihre Freizeitgestaltung, abhängig von ihrem gesundheitlichen Zustand. Diese Veränderungen betreffen nicht selten auch den Freundeskreis. Spätestens wenn das Kind da ist, werden existierende Freundschaften oft neu bewertet, aber auch neue Verbindungen entstehen. Zudem verändert sich mit jedem neuen Familienmitglied das vorherige Gefüge der Familie. Das betrifft die Kernfamilie, aber auch die Beziehungen zu den eigenen Eltern, den jeweiligen Schwiegereltern und den Geschwistern.

Veränderung auf jeder Ebene

Viele Mütter spüren außerdem den Wunsch nach einer beruflichen Veränderung. Sie hinterfragen ihre bisherige Tätigkeit und verringern häufig ihre Arbeitszeiten, wenn sie an den Arbeitsplatz zurückkehren. Manche gehen einen Schritt weiter, machen sich selbstständig oder ändern ihr Fachgebiet komplett. Nicht selten betreffen diese Sinnfragen auch den Bereich der Spiritualität. Es gibt Frauen, die sich durch die Mutterschaft zur Religion zurückbesinnen oder eine andere Art der Spiritualität für sich entdecken. Für jede Frau und bei jeder Schwangerschaft kann diese Art der Veränderung unterschiedlich stark und individuell ausfallen oder empfunden werden. Manche bemerken nur Veränderungen in ihrer Beziehung zum Partner, andere haben besonders stark mit ihrem neuen Körper zu kämpfen, merken dafür aber keinen Wunsch nach Wandel in ihrem professionellen Umfeld. Unabhängig davon, in welchem Ausmaß der Identitätswandel stattfindet– denn er wird stattfinden– gibt es keinen Weg zurück. So, wie ein junger Erwachsener nicht wieder zum Kind wird, wird auch eine Mutter nicht wieder zu ihrem „alten Ich“ zurückkehren. Diese Entdeckung kann einerseits traurig sein, aber andererseits auch wunderschön.

2. Ambivalente Gefühle

Mutterschaft besteht sehr häufig aus dem Empfinden von widersprüchlichen Gefühlen. Wir wollen das Kind nah bei uns haben, gleichzeitig wünschen wir uns jedoch Zeit für uns. Einerseits macht uns kaum ein Mensch glücklicher, andererseits kann uns niemand so herausfordern wie unser eigenes, geliebtes Kind. Es kann sich ziemlich unangenehm anfühlen, derartige ambivalente Emotionen zu durchleben. Oftmals auch noch mehrmals täglich mit nur wenigen Minuten Abstand dazwischen. Es scheint, als hätte sich die Zufriedenheitsskala neu ausgerichtet. Die Höhepunkte sind höher, als in der Zeit vor dem Kind. Aber dafür sind auch die Tiefpunkte tiefer.

Druck durch das Gefühl, undankbar zu sein

Hinzu kommt das schlechte Gewissen, weil man nicht durchgehend glücklich ist, obwohl man das größte Glück auf Erden geschenkt bekommen hat. Woher kommen diese Erwartung und dieser Druck? Warum ist es nicht öffentlich bekannt und akzeptiert, dass diese intensive Mutter-Kind-Beziehung ihre ganz normalen Höhen und Tiefen hat? Unsere klare Empfehlung lautet jedenfalls, diese Gefühle ehrlich zu benennen und zu akzeptieren. Es ist ganz normal und gesund, sich so zu fühlen. Und es geht sehr vielen Frauen so. Elternsein ist nun mal die meiste Zeit nicht einfach nur schwarz oder weiß, nicht gut oder schlecht, sondern sowohl das Eine als auch das Andere.

3) Schuld und Scham – bin ich als Mutter „gut genug“?

Viele Frauen streben oft nach einem Mutterbild, das grundsätzlich unrealistisch perfekt ist. Sie glauben, eine gute Mutter kann nur sein, wer immer top gelaunt, glücklich und zufrieden ist und die Bedürfnisse des Kindes immer an erste Stelle setzt. Dies wird uns insbesondere auf Social Media vorgelebt- siehe der Artikel über Instamom. Diese perfekte Mutter hat wenig eigene Bedürfnisse, ist durchgehend dankbar für ihr Leben mit Kind und hat die beste Zeit ihres Lebens. Sie hat es sich ja schließlich auch selbst ausgesucht und wollte doch Mutter werden! Vergleiche mit dieser perfekten und vor allem unrealistischen Mutterfigur führen dazu, dass Frauen sich NIE, also zu keinem Zeitpunkt, gut genug fühlen können. Es suggeriert, dass diese (wohlgemerkt oft unbekannten) anderen Frauen besser als Mütter geeignet zu sein scheinen als man selbst. Mütter schämen sich oft für ihre Gefühle. Sie zweifeln an sich, leiden leise und versuchen sich einfach zusammenzureißen und weiterzumachen, zu funktionieren. Muttersein wird in der Gesellschaft leider völlig unrealistisch dargestellt und daher sind auch die Erwartungen an Mütter unrealistisch. Das Verständnis für die enormen Anforderungen, die an eine Mutter gestellt werden, scheint erst zu entstehen, wenn man es selbst durchlebt hat.

Empathie statt Vergleichen

Vergleichen wir dies mit Schicksalsschlägen, so fällt es den meisten Menschen nicht sehr schwer, sich in Betroffene hineinzuversetzen. Wir können Empathie zeigen, auch wenn wir die gleiche Erfahrung vielleicht noch nicht gemacht haben. Wir wissen, dass diese Situationen sehr schmerzen oder erschöpfen können und unterstützen die Betroffenen. Auf das Muttersein lässt sich dies auch übertragen: wir können etwas verändern und helfen, indem wir laut werden und bewusst mehr über die echten Gefühle und Herausforderungen von Müttern berichten. Wir können Müttern mehr Mitgefühl und Verständnis entgegenbringen. Und dafür sorgen, dass sich die gesellschaftliche Wahrnehmung ändert.

Muttertät: das sagt die Hirnforschung

Dass hinter der Muttertät eine enorme Hormonparty steckt, das ist uns allen klar. Es ist die hohe Konzentration an Progesteron und Östrogen, die dafür sorgt, dass sich die weibliche Gehirnstruktur nachweislich verändert. Elseline Hoekzema, eine niederländische Neurowissenschaftlerin konnte 2017 mit Hilfe von MRT-Bildern nachweisen, dass sich die Struktur des Gehirns einer werdenden Mutter langfristig enorm verändert. Das geht soweit, dass ein Computeralgorithmus anhand von MRT-Aufnahmen zu 100 Prozent richtig erkennen kann, ob eine Frau bereits Mutter ist oder nicht! Es gibt nur eine Phase in unserem Leben, in der eine ähnlich hohe Menge an Hormonen gebildet wird: in der Pubertät. Auch da werden Bereiche des Gehirns neu strukturiert und ungenutzte Nervenverbindungen gelöscht, besonders wichtige hingegen verstärkt. Dieses „Finetuning“ findet bei Müttern vor allem in dem Bereich (der grauen Masse) statt, der für das Einfühlungsvermögen und Sozialverhalten zuständig ist.

Abbildung: Die Bereiche, die am stärksten schrumpfen (gelb hervorgehoben), spielen eine wichtige Rolle bei der Fähigkeit, sich in andere hinein zu versetzen, bei sozialem Erkennen und Verhalten bei der Pflege. Forscher glauben, dass diese Schrumpfung auf eine „Feinabstimmung“ der Nervenzellverbindungen hinweist. Quelle: brainfacts.org

Muttertät: Let’s spread the message

Also, lasst uns offen reden und den Begriff der Muttertät verbreiten. Wie sehr würde es einer Mutter helfen, wenn sie von Anfang an wüsste, dass sie nicht nur Dankbarkeit und Glücksgefühle mit ihrem Kind empfinden wird? Und vor allem, dass es nicht nur ihre Erfahrung ist, sondern eine gemeinschaftliche. Statt sich schlecht zu fühlen, sollte sie sich sicher fühlen und ihre Gefühle offen teilen. Sie sollte Mitgefühl für sich empfinden und ohne Scham nach Unterstützung fragen, bevor ihr müder Körper nicht mehr kann.

UPDATE : Seit November 2022 gibt es nun auch das gleichnamige Buch im Handel: ich hab es Euch hier verlinkt.

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